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Von guten und bösen Rehen © animal.press
Wohl die blödeste Frage im Kreuzworträtsel lautet: Scheues heimisches Waldtier, 3 Buchstaben… Na? Klar, das Reh. Kennt doch jeder. Und gesehen haben wir es auf Feldern, Weiden und Wiesen, neben der Autobahn, manchmal sogar im Garten… Rehe haben sich an die Nähe zu uns Menschen gewöhnt und ihren Platz in der Kulturlandschaft gefunden. Bis in Siedlungen und Parks hinein.
Aber wer hat das Waldtier eigentlich schon mal im Wald getroffen? Jäger und Förster natürlich – denn die sind auch zu ungewöhnlichen Zeiten ganz ungewöhnlich viel in ihren Revieren unterwegs. Jäger kennen nicht nur ein Reh. Sie unterscheiden zwischen Wald- und Feldreh. Beide haben nicht nur unterschiedliche Lebensräume – sie sehen verschieden aus und führen unterschiedliche Lebensstile.
Das Waldreh ist etwa 15 Prozent leichter als seine Vettern vom freien Feld und es ist meist auch etwas dunkler. Das Waldreh lebt einzeln oder in kleinen Gruppen, während ein Feldreh selten allein daher kommt. Gemeinschaften von vier, fünf, sechs Tieren sind üblich und man hat schon Herden in einer Kopfstärke von 40 Rehen im Norden und Osten Deutschlands beobachtet, wo große zusammenhängende landwirtschaftliche Nutzflächen liegen.
Das Verhältnis der Deutschen zum Reh ist merkwürdig gespalten: Alle lieben Rehe und die süßen Kitze, die im Mai/Juni zur Welt kommen, werden nach Kräften davor geschützt, in Mähmaschinen zu geraten. In der Setzzeit, in der die Kitze ihre Tage vorwiegend im Gras kauernd verbringen, werden Hundehalter aufgefordert, ihre Lieblinge nicht von der Leine zu lassen, Wildtierauffangstationen und Zoos nehmen jedes Jahr verwaiste Rehe als Findlinge auf, um sie hochzupäppeln. Eine Frage des Herzens und Mitgefühls. Dabei ist Rehen in Deutschland ohnehin nur ein kurzes Leben beschieden. Zweieinhalb Jahre währt es im Schnitt – dann schlägt die Kugel des Jägers zu oder ein Auto. Eines natürlichen Todes an Altersschwäche etwa stirbt hierzulande keines. Es sei denn, es lebt in einem Zoo, wo Höchstalter von 16 Jahren vorkommen.
Doch viele fordern noch viel höhere Abschusszahlen. Nicht nur Waldbesitzer, sondern auch Naturschützer sagen: Es gibt zu viele. Ihr Appetit auf Knospen soll Wäldern Schaden zufügen. Die Bestände sind in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich gewachsen. Auf ein Allzeithoch von rund drei Millionen Tieren.
Weil Rehe fruchtbar sind, jährlich Kitze setzen und Zwillings-, ja Drillingsgeburten häufig vorkommen, rechnen Fachleute mit einer jährlichen Zuwachsrate von 80 bis 120 Prozent. Wo Rehe den Lebensraum mit ihren klassischen Feinden, wie Wolf und Luchs teilen, bleibt die Bevölkerungsexplosion trotz der immensen Fruchtbarkeit aus. Ein Luchs, ein Wolf verzehrt im Durchschnitt ein Reh pro Woche. Doch die natürlichen Feinde, die für ein Gleichgewicht sorgen könnten, waren lange verschwunden, kehren nur allmählich zurück. Jäger sollen ihre Aufgabe übernehmen und die Bestände regulieren. Doch die rund 1, 1 Millionen Rehe, die jährlich geschossen werden und die zusätzlichen 200 bis 300 000 Tiere die im Straßenverkehr unter die Räder kommen, verlangsamen das Wachstum lediglich. Verantwortlich dafür den Bevölkerungsboom ist nach Ansicht von Wildbiologen auch das Klima. Harte Winter, die früher etwa im Rhythmus von 10 Jahren die Bestände drastisch reduzierten, bleiben nun schon seit einem Vierteljahrhundert aus.
Gute Rehe, böse Rehe. Waldschäden durch Rehverbiss gehen fast ausschließlich auf das Konto von Waldrehen. Feldrehe bleiben als ortstreue Tiere in ihren Revieren und außen vor. Sie knabbern höchstens mal am Waldrand, leben ganz überwiegend von Kräutern und Strauchknospen, die als Feldgehölze für die Holzwirtschaft absolut belanglos sind. Lediglich das Schlaflager, das so ein zierliches, um 15 kg leichtes Reh im Schutz eines Kornfeldes plattliegt führt zu minimalen Ernteeinbußen bei der Landwirtschaft.
Mit Planung und Logik ist die jagdliche Strecke von Rehwild kaum zu erklären. Denn die weist einen Anteil von drei bis vier erlegten Feldrehen auf ein Waldreh aus. Was daran liegt, dass Waldrehe (die in der Statistik nicht gesondert aufgeführt werden) 1. erheblich seltener sind und 2. erheblich schwieriger zu treffen. Denn in ihrem Lebensraum gibt es kein freies Feld für die Kugel. Überall stehen Bäume im Weg und ein empfindliches Frühwarnsystem die spezielle Bauweise der scheuen Tiere begünstigt lebensrettende Fluchten.
Auf 400 Meter Entfernung kann ein Reh einen Menschen wittern, wenn der Wind günstig steht. Und trotz relativ schwacher Sehleistung kann es sehr gut zwischen harmlosen Spaziergängern oder Liebespärchen und Jägern unterscheiden. Sind doch erstere in der Regel nicht in Grün gewandet, sie schleichen nicht, tragen keine Feldstecher und Gewehre mit sich. Spürbar wird die begründete Vorsicht in der Fluchtdistanz. Beim Anblick von Waidmännern/Waidfrauen such Reh das Weite – wird der Zweibeiner dagegen als Freizeitler identifiziert, lässt sich Reh beim Wiederkäuen nicht stören, duldet Nähe gelassen.
Entdecken Rehe einen Waidmann, geht’s ungefähr so, wie mit Gottschalks Gummibärchen: Kaum sind sie da, schon sind sie weg. Möglich macht das rasche Verschwinden der Körperbau. In Fachkreisen gelten die kleinen Verwandten des Rothirschs als „Schlüpfer“. Die Vorderläufe sind kürzer als die Hinterläufe, die Schultern liegen niedriger als die Hüfte. Diese Keilform ermöglicht es ihnen, im Tempo von 40 bis 50 km/h auf Nimmerwiedersehn durchs Unterholz zu preschen.
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animal.press / Zu 4000 Tierstorys / Schmidts Tierleben / Schmidts Tierleben |
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